"Kann bei einer älteren Dame mit einer hypochromen und mikrozytären Anämie eine Eisenmangelanämie aufgrund eines niedrigen Ferritingehalts des Blutes diagnostiziert werden?"
Gordon H. Guyatt, Christopher Patterson, Mahmoud Ali, Joel Singer, Mark Levine, Irene Turpie, Ralph Meyer:
Diagnosis of Iron-Deficiency Anemia in the Elderly (Am J Med 1990;88:205-9).
Lesen Sie diesen Artikel und entscheiden Sie:
Jetzt wird's kompliziert! - Hier kommt ein wenig Mathematik ins Spiel, und die Berechnungen zur Diagnostik sind die schwierigsten, die wir in Zusammenhang mit der EBM anbieten können...
Aber keine Angst: auch wenn alles auf den ersten Blick verwirrend erscheinen mag, wird nichts über die Grundrechenarten hinausgehen. Sie können anhand der angegebenen Formeln der Reihe nach die angegebenen Parameter berechnen und erhalten hierdurch einen Satz von Kennzahlen, mit denen Sie wahrscheinlich genauer und einfacher den möglichen Informationsgewinn durch ein diagnostisches Verfahren beschreiben können, als mit den Ihnen bisher bekannten Methoden.
Sie sollten die Formeln wohl einmal selbst durchgerechnet und verstanden haben. Nehmen Sie sich dafür zwei Stunden Zeit! Danach dürfen Sie Papier und Bleistift beiseite legen, und unseren Diagnostic Importance Calculator verwenden - der rechnet dann für Sie.
Detaillierte Anleitungen finden Sie im EBM-Buch auf den Seiten 118-128. Um - auch ohne Buch - die wichtigsten Schritte zur Prüfung der Wichtigkeit des Artikels kennenzulernen, bearbeiten Sie diese Seite des Einführungskurses weiter. Falls möglich, tun Sie dies in einer Lerngruppe und diskutieren Ihre Ergebnisse miteinander!
Eine "Vierfeldertafel" heißt so nach ihren zentralen vier Feldern. Die 13 umliegenden Felder, die Sie in der folgenden Abbildung erkennen können, und die den HTML-Programmierer in mir zu wahren Freudensprüngen motivieren :-( wurden bei der Namensgebung der Einfachheit halber ignoriert.
Ergebnis des Gold-Standards (Eisenmangel im Knochenmark) |
||||
positiv (festgestellt) |
negativ (ausgeschlossen) |
gesamt | ||
Ergebnis des zu prüfenden diagnostischen Tests (Serum-Ferritin) |
positiv (<=45 µg/l) |
a | b | a+b |
negativ (>45 µg/l) |
c | d | c+d | |
gesamt | a+c | b+d | a+b+c+d |
Als nächstes suchen Sie im Ergebnisteil der Studie nach Angaben über die verschiedenen Patientengruppen.
Eingetragen werden sollen:
In Feld a die Zahl der Patienten, bei denen das Ergebnis des Gold-Standards und des zu überprüfenden diagnostischen Tests übereinstimmend positiv waren. |
In Feld b die Zahl der Patienten, bei denen das Ergebnis des Gold-Standards negativ war, während das Ergebnis des zu überprüfenden diagnostischen Tests positiv war. |
In Feld c die Zahl der Patienten, bei denen das Ergebnis des Gold-Standards positiv war, während das Ergebnis des zu überprüfenden diagnostischen Tests negativ war. |
In Feld d die Zahl der Patienten, bei denen das Ergebnis des Gold-Standards und des zu überprüfenden diagnostischen Tests übereinstimmend negativ waren. |
Unser als Beispiel gewählter Artikel ist hier leider ein wenig kompliziert. Er untersucht nicht nur einen einzigen diagnostischen Test, sondern derer gleich 4 (Ferritin, Transferrin-Sättigung, Zellvolumen und Protoporphyringehalt der roten Blutkörperchen). Außerdem unterscheidet er nicht nur zwischen "positiv" und "negativ", sondern betrachtet jeweils verschiedene Abstufungen. Deshalb müßten wir zur gesamten Beurteilung der untersuchten diagnostischen Verfahren 18 Vierfeldertafeln zeichnen und ausfüllen (Also würde 1 Person 234 diskriminierte Felder zeichnen. Wenn man die zweite Ziffer der Anzahl der der namensgebenden Felder von deren erster subtrahiert, erhält man die 5. Nette Zahlen. Ich hoffe, daß alles stimmt...).
Weiter unten werden Sie sehen, daß der Aufwand dieser Untersuchungen den Vorteil ergibt, daß man sehr differenzierte Aussagen zur Bedeutung der Ergebnisse der Laboruntersuchung in verschiedenen Abstufungen machen kann. Freundlicherweise haben die Autoren uns die Arbeit der 18 Vierfeldertafeln abgenommen, so daß wir zu Ihrer Übung nur vorschlagen möchten, daß Sie zumindest die Ergebnisse für ein Ergebnis der Ferritin-Diagnostik im Bereich unter oder bis 45 µg/l in Ihre einzige Vierfeldertafel eintragen!
Wenn Sie Schwierigkeiten haben, geben Sie nicht gleich auf, sondern lassen Sie sich durch Kolleginnen oder Kollegen beim Heraussuchen der Zahlen im zu beurteilenden Artikel helfen oder besprechen Sie sich mit ihnen, um eventuelle Schwierigkeiten zu diskutieren!
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Haben Sie's geschafft?
Wenn Sie - trotz genauer Suche und Hilfe durch Kolleginnen und Kollegen - nicht alle verlangten Zahlen aus dem Artikel entnehmen können, werden Sie Schwierigkeiten haben, die Wichtigkeit seines Ergebnisses mit den Methoden der EBM zu beurteilen. Falls in diesem Fall die weiter unten angegebenen Kennzahlen nicht selbst im Artikel enthalten sein sollten, werden Sie nicht zu einem verwendbaren Ergebnis kommen. Dann sollten Sie möglicherweise darüber nachdenken, zur Beantwortung Ihrer Fragestellung einen besser geeigneten Artikel zu suchen.
Wir haben im Artikel des Beispiels für die Beurteilung der Wichtigkeit der Ferritin-Bestimmung für ein Ergebnis von Serum-Ferritin <=45 µg/l die folgenden Zahlenwerte gefunden:
Ergebnis des Gold-Standards (Eisenmangel im Knochenmark) |
||||
positiv (festgestellt) |
negativ (ausgeschlossen) |
gesamt | ||
Ergebnis des zu prüfenden diagnostischen Tests (Serum-Ferritin) |
positiv (<=45 µg/l) |
a = 70 | b = 15 | a+b |
negativ (>45 µg/l) |
c = 15 | d = 135 | c+d | |
gesamt | a+c | b+d | a+b+c+d |
Dieses Ergebnis finden Sie in Table III, S. 208, erster von vier Abschnitten der Tabelle (Ferritin), wie folgt:
Feld a: Spalte "Number Iron Deficient" / Zeile ">18<=45" + Zeile "<=18" (beide Zeilen betreffen Ferritin <= 45 µg/l). |
Feld b: Spalte "Number Not Iron Deficient" / Zeile ">18<=45" + Zeile "<=18" (beide Zeilen betreffen Ferritin <= 45 µg/l). |
Feld c: Spalte "Number Iron Deficient" / Zeile ">100" + Zeile ">45<=100" (beide Zeilen betreffen Ferritin > 45 µg/l). |
Feld d: Spalte "Number Not Iron Deficient" / Zeile ">100" + Zeile ">45<=100" (beide Zeilen betreffen Ferritin > 45 µg/l). |
Dieser Schritt beschränkt sich auf reines Addieren. Allerdings können Sie schon damit die Qualität Ihres Artikels überprüfen: Die Zahl rechts unten sollte möglichst genau mit der Zahl der in die Studie eingegangenen Patienten übereinstimmen!
Unser Ergebnis:
Ergebnis des Gold-Standards (Eisenmangel im Knochenmark) |
||||
positiv (festgestellt) |
negativ (ausgeschlossen) |
gesamt | ||
Ergebnis des zu prüfenden diagnostischen Tests (Serum-Ferritin) |
positiv (<=45 µg/l) |
a = 70 | b = 15 | 85 |
negativ (>45 µg/l) |
c = 15 | d = 135 | 150 | |
gesamt | 85 | 150 | 235 |
Als nächstes stellen wir Ihnen einige Kennzahlen vor, die Sie über Ihre Vierfeldertafel berechnen können. Die ersten kennen Sie wahrscheinlich schon, und wahrscheinlich haben Sie diese schon früher nicht besonders gern gemocht. Halten Sie durch bis zu den letzten!
(Alle Prosa-Definitionen und -Anmerkungen sind meine eigenen, ich hoffe, sie sind zutreffend. Ich habe bewußt manche als Frage nach dem Parameter und manche als Antwort formuliert, um so ein Verstehen aus unterschiedlichen Richtungen zu ermöglichen. Ich hoffe, diese Sätze sind für Sie verständlich und nützlich. js Fr 1302980144)
Prävalenz = Prevalence = Pre-Test-Probability = (a+c)/(a+c+b+d)
Mit welcher Wahrscheinlichkeit hat eigentlich ein Patient aus dem Zielkollektiv die gesuchte Erkrankung vor dem diagnostischen Test?
Sensitivität = a/(a+c)
Wie empfindlich erkennt der Test die Erkrankung?
Spezifität = d/(b+d)
Indirekt: Wie spezifisch beschränkt sich ein positives Testergebnis auf vorliegende Erkrankungen?
Positiver Prädiktiver Wert = a/(a+b)
Post-Test-Probability für ein positives Test-Ergebnis
Wenn nun ein Patient am Ende ein positives Testergebnis bekommt, wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, daß er tatsächlich auch eine Erkrankung (und nicht ein falsch positives Ergebnis!) hat?
Negativer Prädiktiver Wert = d/(c+d)
Wenn nun ein Patient am Ende ein negatives Testergebnis bekommt, wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, daß er tatsächlich keine Erkrankung (und nicht ein falsch negatives Ergebnis!) hat?
Likelihood-Ratio for a positive test result, LR+
"Wahrscheinlichkeitsverhältnis für ein positives Testergebnis"
Das Verhältnis
der Wahrscheinlichkeit, daß ein Erkrankter ein positives Ergebnis bekommt,
zu der Wahrscheinlichkeit, daß ein Gesunder ein positives Ergebnis bekommt.
Likelihood-Ratio for a negative test result, LR-
"Wahrscheinlichkeitsverhältnis für ein negatives Testergebnis"
Das Verhältnis
der Wahrscheinlichkeit, daß ein Gesunder ein negatives Ergebnis bekommt,
zu der Wahrscheinlichkeit, daß ein Kranker ein negatives Ergebnis bekommt.
(Ich werde die deutschen Übersetzungen für LR+ und LR- hier nicht weiter verwenden, obwohl ihr Charme formal recht genau dem der englischen Pendants entspricht.)
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die LR+ und LR- zu berechnen. Didaktisch hoffentlich wertvoll erläutere ich sie alle:
LR+ = Sensitivität / (1-Spezifität) = a/(a+c) / (1-d/(b+d)) = a/(a+c) / (b/(b+d))
LR- = (1-Sensitivität) / Spezifität
Dies klingt alles recht kompliziert. Wo gibt es eine einfach zu verstehende Anwendungsmöglichkeit?
Wenn Sie versuchen, die LR+ nach den angegebenen Formeln zu berechnen, so finden Sie, daß Sie hierfür die Inhalte der von Feldern benötigen, die wir für Sie wie folgt eingefärbt haben:
Für Sensitivität: Felder a und a+c. |
Für (1-Spezifität): Felder b und b+d. |
Ergebnis des Gold-Standards (Eisenmangel im Knochenmark) |
||||
positiv (festgestellt) |
negativ (ausgeschlossen) |
gesamt | ||
Ergebnis des zu prüfenden diagnostischen Tests (Serum-Ferritin) |
positiv (<=45 µg/l) |
a = 70 | b = 15 | a+b = 85 |
negativ (>45 µg/l) |
c = 15 | d = 135 | c+d = 150 | |
gesamt | a+c = 85 | b+d = 150 | a+b+c+d = 235 |
Wir möchten nun - ebenfalls durch Färben - dieselben vier Felder einmal anders zusammenfassen:
Ergebnis des Gold-Standards (Eisenmangel im Knochenmark) |
||||
positiv (festgestellt) |
negativ (ausgeschlossen) |
gesamt | ||
Ergebnis des zu prüfenden diagnostischen Tests (Serum-Ferritin) |
positiv (<=45 µg/l) |
a = 70 | b = 15 | a+b = 85 |
negativ (>45 µg/l) |
c = 15 | d = 135 | c+d = 150 | |
gesamt | a+c = 85 | b+d = 150 | a+b+c+d = 235 |
Pre-Test-Odds und Post-Test-Odds
Möglicherwese haben Sie den Begriff "Odds" schon einmal gehört. Mit "Odds" lassen sich im Prinzip dieselben Sachverhalte beschreiben, wie mit "Wahrscheinlichkeiten" oder "Risiken". Allerdings liegen die Schwerpunkte ein wenig unterschiedlich:
Während Wahrscheinlichkeiten immer im Bereich zwischen 0 und 1 (das sind dieselben Werte wie 0% und 100%!) liegen, können Odds jeden durch Division zweier positiver Zahlen erreichbaren Wert annehmen (für Studien: ausreichend Patienten vorausgesetzt). Odds >> 1 sind also sehr wohl möglich.
"Odds" lassen sich auch in "Risiken" oder "Wahrscheinlichkeiten" umrechnen:
odds := wahrscheinlichkeit / (1-wahrscheinlichkeit)
wahrscheinlichkeit := odds / (1+odds)
So einfach ist das... (Rechnen Sie es lieber nach. Ich verrechne mich oft.)
Nun kann die Anwendung folgen; wir berechnen uns einige neue Kennzahlen:
Aus den Feldern a und b die Post-Test-Odds nach einem positiven Testergebnis = a/b. |
Aus den Feldern a+c und b+d die Pre-Test-Odds = a+c / b+d. |
Die Pre-Test-Odds sind, ähnlich der Pre-Test-Probability ein Maß für die Chance, daß ein Ereignis nicht eintritt bzw. eintritt.
Mit ein wenig Mathematik findet man, daß die LR+ zufällig genau dem Verhältnis zwischen Post-Test-Odds und Pre-Test-Odds entspricht (und auch daraus kann man sie berechnen):
LR+
= Sensitivität / (1 - Spezifität)
= (a/(a+c)) / (b/(b+d))
= (a(b+d)) / (b (a+c))
= (a/b) • ((b+d)/(a+c))
= (a/b) / ((a+c)/(b+d))
= PostTestOdds / PreTestOdds
= LR+
Entsprechendes gilt für die LR- bei negativem Testergebnis.
Wahrscheinlich wußten Sie schon bisher, daß ein positives Testergebnis auch bei relativ guten Tests in Zielpopulationen mit geringer Prävalenz das Vorliegen einer Erkrankung nicht viel wahrscheinlicher macht.
Wahrscheinlich haben Sie auch bisher schon Ihre Patienten möglichst gut selektiert, wenn Sie über die Anwendung diagnostischer Verfahren entschieden haben.
Wahrscheinlich kannten Sie auch schon bisher die Begriffe "Sensitivität" und "Spezifität" und wußten, daß beide besonders hoch sein sollten.
Einfache Berechnung der Chance einer Erkrankung nach dem vorliegenden Testergebnis
Wenn Sie in Zukunft die LR+ oder LR- eines zu beurteilenden diagnostischen Verfahrens kennen, dann können Sie für jedes Patientenkollektiv durch einfaches Multiplizieren mit den Pre-Test-Odds die Post-Test-Odds für einen Patienten nach einem positiven oder negativen Testergebnis berechnen. Und damit wissen Sie sofort, welche Chance dieser Patient hat, erkrankt zu sein!
PostTestOdds := LR • PreTestOdds
Einfacher Vergleich diagnostischer Verfahren
Außerdem können Sie Testverfahren mittels der LR+ und LR- vergleichen: Eine hohe LR+ bedeutet, daß bei positivem Testergebnis die Chance des Patienten, erkrankt zu sein, stark steigt. Eine tiefe LR- bedeutet, daß sie stark fällt. Verwendbare diagnostische Tests haben LR+ > 3 und LR- < 0,3; sehr gute diagnostische Tests bieten LR+ > 9 und LR- < 0,1. Ein Test mit LR+ und LR- um 1 erbringt keine nennenswerte zusätzliche Information.
Diese Anwendungsmöglichkeiten stellen Beispiele dar. Sowohl im EBM-Buch als auch in unseren Workshops können Sie weitere Anwendungen kennenlernen wie:
An dieser Stelle möchten wir Ihnen unsere Ergebnisse für das Beispiel mitteilen:
Ferritin <=45 µg/l als diagnostischer Test für durch Knochenmark-Untersuchung gesicherten Eisenmangel:
Wenn also ein Patient aus einer der Studienpopulation vergleichbaren Population (Älter, niedriger Hb, Hypochrome Anämie) mit diesem Verfahren untersucht wird, dann verändert sich seine Chance, daß bei ihm eine Eisenmangelanämie vorliegt, ...
Dieser Zugewinn an Information erscheint als wichtig.
Falls Sie es noch nicht getan haben: Mit einem ganz kurzen Blick in Ihr Paper, Tabelle III, können Sie die LRs für die verschiedenen diagnostische Verfahren und Wertebereiche vergleichen! Welchen Test würden Sie anwenden?